Einigkeit und Recht und Freiheit

Berlin | ArtRegion: Charlottenburg

Philipp Haverkampf

Einigkeit und Recht und Freiheit

11. – 28. August 2021

Lady Gaga und Markus Söder sind eineiige Zwillinge. Popstars und Politiker schaffen ihr Werk aus sich selbst. Sie ignorieren in ihrem Willen, zu gestalten physikalische Gesetze: Sie schaffen aus dem Nichts ein Etwas. Popstars und Politiker wollen Gestalter, Weltverbesserer, Schöpfer, letztendlich Götter werden. Sie wollen, dass wir ihnen und an sie glauben. Sie machen die Welt zu ihrer Bühne. Sie folgen ihrer Berufung, mehr sein zu wollen als die Tochter einer Sekretärin oder der Sohn eines Maurers.

Aber niemand wird als Kanzlerin, Minister, Staatssekretärin oder Bürgermeister geboren. Deutschland ist ein Land von Spargelstechern, Ball-Debütantinnen, Geflohenen, Gelähmten, Reichen, Armen, Trinkern und Sonnenbadern, Heiratsschwindlern und Hochstaplerinnen. Die Deutschen sind nicht die Kinder von Kaisern, Päpsten oder Zarinnen. Die Deutschen sind Kaputte, Gesunde, Erfolgreiche, Gescheiterte und alle dazwischen. Die Deutschen sind die Freaks im Fantasialand der Möglichkeiten.

Die vermeintliche Größe von Mandtatsträgern, die man sonst nur aus dem Fernsehen, von Parteitagen oder Großveranstaltungen kennt, bricht häufig in sich zusammen, wenn man sie trifft. Da sitzt einem der Vorsitzende einer Partei gegenüber, man sollte meinen, ein mächtiger, selbstsicherer Mann, und im Gespräch fühlt es sich an, als wolle er immer das Richtige sagen, das, was das Gegenüber zum Lachen bringt, was gut ankommt – wie ein Junge beim ersten Date. Am Ende sitzt da ein verletzlich unsicheres Menschenkind in einem Anzug, der altersbedingt langsam zu schmal wird, ein Menschenkind, das wie jedes andere nach Liebe schreit. Da ist die Frau mit Bundestagsmandat, die auf ein beiläufiges Kompliment für ihre 1000-Euro-Valentino-Schuhe mit Erröten reagiert und sagt: „Schreiben Sie das bloß nicht.“ Da ist der Minister, er wurde als der nächste Kanzler gehandelt, und auf dem Rücksitz der Limousine ist er einfach nur ein leerer Körper, der ermüdet in eine unsichere Zukunft lächelt.

Die da oben werden Politiker oft genannt. Weil sie auf Bühnen stehen und Reden halten und ein bisschen mehr als der Durchschnitt verdienen. Aber wenn sie im Plenarsaal des Reichstag sind, dann sind sie die da unten. Von der Besuchertribüne und in den Fernsehübertragungen schaut man auf sie herab. Die da oben sind eigentlich das Volk.

Politikertage sind lang. In den Sitzungswochen sind sie weit weg von ihren Familien. Sind Sie abends einsam in Berlin? Und egal ob Bundestag oder auf Kommunalebene, sie machen fast alles, um gut weg zu kommen. Mit Blumen posieren? Na klar. Und nochmal bitte die Treppe runtergehen für das Foto. Sie antworten auf die dümmsten Fragen, schütteln fast jede Hand, in der Hoffnung, Menschen wirklich zu berühren. Eine Rechtspopulistin setzt sich in Pumps aufs Sofa.

Und trotzdem: An Infoständen und auf Veranstaltungen werden sie kritisiert, beleidigt, manchmal sogar bespuckt oder körperlich angegriffen. Die Politik kennt keine Privatsphäre und keinen Schutz. Die Menschen dort hasten von Termin zu Termin durch ein Land, das sie zum Besseren verändern wollen.

83 Millionen Menschen leben in diesem Land, in dem ich mehr Tourist als Journalist bin. Vieles wirkt vertraut, ist mir aber doch ganz fremd. Ich schaue auf die Bewohner wie ein Anthropologe. Seit ich denken kann, frage ich mich: Wer sind die Deutschen überhaupt?


Öffnungszeiten

Mi-Fr: 11-18
Sa: 11-16

Philipp Haverkampf
Mommsenstrasse 67
10629 Berlin