Wenn Bücher Recht haben – Justitia und ihre Helfer in Handschriften der Stiftsbibliothek St.Gallen

Doppelseite aus dem Codex Sangallensis 742

Claudius Krucker | 1. Dezember 2014

Wenn Bücher Recht haben – Justitia und ihre Helfer in Handschriften der Stiftsbibliothek St.Gallen

Regeln und Gesetze sind grundlegend für jede Gesellschaft. Die Stiftsbibliothek St.Gallen führt anhand ihrer einzigartigen Handschriftensammlung durch die faszinierende Entwicklung des abendländischen Rechts von der Antike bis zum Ende des Mittelalters. Dabei zeigt sie einige bisher wenig bekannte Perlen aus ihrem Bestand.

Mit einem Umfang von rund 80 Handschriften bilden die Rechtshandschriften eine mittelgrosse Abteilung in der Stiftsbibliothek, und dennoch sind sie noch nie zum Thema einer thematischen Jahresausstellung auserkoren worden. Dies ist deshalb erstaunlich, weil die Stiftsbibliothek einige für die Rechtsgeschichte sehr wichtige Handschriften besitzt, erstklassige Quellen zum römischen, karolingischen und kirchlichen Recht und berühmte Sammlungen germanischer Stammesrechte.

Vielleicht liegt es aber einfach daran, dass die Rechtstexte weniger mit schönen Minuskeln ausgeschmückt sind als beispielsweise biblische oder literarische Texte und damit – zumindest auf den ersten Blick – weniger attraktiv für eine Ausstellung erscheinen. Im Zusammenhang mit dem aktuellsten Band der Handschriftenkatalogisierung, der sich eben dieser Rechtshandschriften widmet, hat das Team der Stiftsbibliothek nun eine Ausstellung zusammengestellt, die sich sehen lassen kann. Dabei war die Zielvorgabe nicht gerade einfach: So sollten einerseits zentrale juristische Themenbereiche abgedeckt und mit Handschriften illustriert werden, anderseits durften wichtige Handschriften nicht in der Ausstellung fehlen, und schliesslich soll’s am Ende doch auch etwas fürs Auge sein. Dass die Stiftsbibliothek all dies ohne Leihgaben, ausschliesslich mit Beständen aus der eigenen Sammlung, gut bewerkstelligen kann, zeugt von deren Qualität.

Gerade in jüngerer Zeit wird die Rechtsentwicklung in unserem Land auch immer stärker auf der politischen Agenda diskutiert – allenthalben wird eine steigende Regelungsdichte beklagt, und wenn gar der Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention gefordert wird, lohnt sich vielleicht doch ein Blick zurück in die Geschichte. Mit ihrer Zeitreise durch die Entwicklung des abendländischen Rechts leistet die aktuelle Ausstellung auch einen Beitrag an den gesellschaftlichen Diskurs.

Handschriften mit den Gesetzen der Langobarden, Franken und Alemannen gewähren uns eindrückliche Einblicke in das Rechtsverständnis und die Rechtsordnung im Frühmittelalter. Während heute im Strassenverkehr für kleinere Übertretungen ein Bussenkatalog besteht, wo einem konkreten Tatbestand eine konkrete Ahndung zugeordnet wird, finden wir in einer alemannischen Abschrift aus dem Jahr 793 einen vergleichbaren Katalog für Körperverletzungen: Jemandem ein Ohr abzuschlagen, kostet 40 Schillinge, wenn das Opfer nachher taub ist, ansonsten nur 12 Schillinge. Karl der Grosse hatte das Ziel, das Rechtswesen in seinem Reich zu vereinheitlichen, wozu Gesetzeserlasse und Verlautbarungen, sog. Kapitularien, durch Königsboten verbreitet wurden. Schliesslich zeugen Bussbücher von einem kirchlichen «Bussentarif».

Im Hoch- und Spätmittelalter, im Zuge von Universitätsgründungen, entwickelte sich die Rechtswissenschaft als eigene Disziplin und das kirchliche Recht baute seinen Einfluss aus. Das Decretum Gratiani, ein um 1140 fertiggestelltes Lehrbuch des Kirchenrechts, das bis 1918 Rechtsgrundlage der Katholischen Kirche sein sollte, stellte einen Meilenstein in der Rechtsgeschichte dar. Statt Rechtstexte einfach chronologisch oder thematisch zusammenzustellen, begannen die Rechtsgelehrten des 12. Jahrhunderts, die gesammelten Rechtstexte in eine Gesamtordnung einzufügen, indem sie Widersprüche zwischen ihnen auflösten und Parallelen hervorhoben. Dadurch veränderte sich auch das Layout, ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist der ausgestellte Cod. Sang. 742: In der Mitte – sogar noch mit einem Bild ausgeschmückt – der eigentliche Rechtstext, darum herum in etwas kleinerer Schrift der Standardkommentar, und am Rand weitere Notizen und Anmerkungen, die von Lesern angebracht wurden.